[S. 4]
I. Über das Wesen der geschichtlichen Person
Wenn ich mich, hineingestellt in die Verwicklungen, Entwicklungen einer ungeheuren Geschichte frage: wodurch denn bin ich, außer dem, dass ich ein Substrat fließenden Bewusstseins, ein Lebewesen begabt mit natürlichen Kräften des Leibes und der Seele bin, wodurch bin ich Element des geschichtlichen Werdens, da ja dem Ich des bloßen reinen Bewusstseins die Weltwirksamkeit, dem natürlichen Leib-Seele-Wesen die geschichtebildende Kraft fehlt? Ich, der jetzt im Elternhaus sitzende Mensch, Bürger, Soldat, Student, bin nicht bloß wie ein Bett, in dem erlebte Inhalte immanenter Art oder mit transzendentem Bezuge aus erwarteter Zukunft in erinnerte Vergangenheit gleiten, nicht nur ein psychophysisches Wesen, das auf Eindrücke der psychischen und physischen Außenwelt mit leichter oder schwerer messbarer Gesetzlichkeit nach Eigenart und Leistungskraft seiner leiblich-seelischen Organe und Eigenschaften reagiert. Ein Blick auf das Wesen geschichtlicher Forschung belehrt über das Wesen des geschichtlichen Seins, dem sie genügen will, somit auch der geschichtlichen Person. Dem verstehenden Sicheinverleben auf der Aktseite entspricht der Intention nach auf der Gegenstandsseite, in der geschichtlichen Welt, ein dem Verständnis zugänglicher Sinnzusammenhang. Es wird nötig sein, mit einigen Worten zu sagen, was damit [S. 5]gemeint ist; es werden aber auch einige Worte genügen, da hier die Untersuchungen Husserls und seines Kreises, vor allem die vorbildlich klaren von Edith Stein[1], die Grundlage für Erörterungen schon geschaffen haben.
Diese Notwendigkeit besteht kaum für die Trennung des Sinnzusammenhangs vom Kausalnexus, dem ich selbstverständlich auch als natürliches Lebewesen unterworfen bin: Er setzt gewisse Bedingungen der Auslösbarkeit und der Weltwirksamkeit meiner Akte. Dieser Kausalnexus, der nur die tatsächliche Bedingtheit des bloßen Auftretens eines im Übrigen unerkannten Geschehnisses durch das Auftreten eines anderen für empirische Forschung sicherstellt, hat keinerlei Ähnlichkeit mit jener Sinngesetzlichkeit, die eine Einheit der Begreiflichkeit aus dem Zusammen und Nacheinander der Elemente ihres Bereiches schafft: eine der vernünftigen Einsicht verständliche Einheit deshalb, weil und soweit als sie selbst eine Einheit aus Vernunft ist. Während der Kausalnexus mit der Natur notwendig als Faktum mitgesetzt ist, weil im Wesen der Natur der Aufbau nach dem Schema Ursache-Wirkung gründet, ist die Sinngesetzlichkeit immer nur soweit realisiert, wie praktische Vernunft rein oder irrend die Wirklichkeit durchsetzt hat.[2] Damit ist auch der wichtigere Unterschied gekennzeichnet, der von Fundierungseinheit, d.h. Einheit des Wesens, und Motivationseinheit, d.h. Einheit [S. 6]des Sinnes. Fundierungseinheiten werden hergestellt durch jene wesentlichen Bindungen und Schichtungen von Fühlen auf theoretische Akte, von Wollen auf Fühlen usw. Nicht wie Sinneinheiten drängen sie erst im Sein drängend zur Wirklichkeit, sondern sind in ihm und zwar notwendig mitgegeben und strukturieren gemeinsam mit wahrnehmbaren wirksamen Eigenschaften das Ganze der seelischen Einheit, oder anders gesagt: Die seelische Einheit entsteht auf Grund differenzieller Anlagen aus der wesensmäßigen Fundierung der Subjektivitäten. Die geistige Einheit der Person dagegen wird durch das Werden eines Sinnzusammenhangs geschaffen, der das Auftreten und die Artung der Subjektivitäten aus Vernunft motiviert und nach Maßgabe personaler erlebbarer Eigenschaften verschiedener Tiefenstufen, die sich in ihnen enthüllen. Wenn ich das Werden eines Genius wie Napoleon verstehen will, so fasse ich es vornehmlich als Funktion gewisser Werte und Unwerte, in deren Entfaltung sich sein persönliches Wesen und dessen Tiefe enthüllt. Es sind dies solche Werte, die in der Stellungnahme und dem Verhältnis, die ich zu Wertrealitäten gewinne, zu erlebbarer Gegebenheit kommen, sich darin aussprechen, Werte wie Treue, wie Ehrliebe, Religiosität, Schönheitssinn, Erkenntnisdrang, Pflichtgefühl usw. – Werte, denen physisches Sein, animalische Kräfte, seelische Fähigkeiten nur Bedingungen des Auftretens vorschreiben. Diese geistigen Werteigenschaften suchen sowohl im Streben und Widerstreben, Wählen und Verwerfen der [S. 7]Person deren Stellung zu den Wertrealitäten ihrer Umwelt zu bestimmen, wie im Schaffen die Gestaltung und Umgestaltung, der sie die geschichtliche Wirklichkeit unterwirft. Also: eine geschichtliche Person ist konstituiert durch gewisse Werte, die ihr Richtungen der Selbstgestaltung und Weltgestaltung vorschreiben. Eine Person verstehen heißt: ihr Sein und Werden als Diktate dieses personalen Wertwesens begreifen.
Die Einheit der geschichtlichen Person, d.h. jene personale Geschlossenheit, die einen ungebrochenen Verständniszusammenhang ermöglicht, ist also durch ihren Vernunftcharakter nicht als feste Wirklichkeit, sondern als Aufgabe gesetzt – anders als die Einheit der Natur, ja auch als der Psyche in dieser. Ein Blick auf das Wesen der geistigen Struktur des Kindes, in dem erst die Keime des kommenden Seins zu treiben beginnen, lehrt Grund und Sinn dieser Aufgabe kennen.
Die Unfertigkeit des Kindes bedeutet neben der Unentwickeltheit seiner natürlichen Anlagen eine Undeterminiertheit, eine Vagheit der Strebungsrichtungen, in die Gesetz und Richtungsbestimmtheit erst mit der fortschreitenden Entfaltung der Persönlichkeit eintreten. Das personale Wertwesen enthüllt sich immer klarer in der Art, wie das Subjekt sein Leben, seine Umwelt gestaltet, Güter schafft und erstrebt, Wertverhältnisse eingeht und auflöst, Personen hasst und liebt. Mehr und mehr hat alles, worauf das Ich den Stempel der Bejahung drückt, auch an sich schon den Charakter der Verträglichkeit, ja – fordert sich untereinander zur [S. 8] Ergänzung: sodass eine gewisse Voraussicht möglich ist, wie sich das Subjekt zu gewissen Forderungen und Lockungen der Außenwelt, zu gewissen Personen und gewissen Leistungen, zu gewissen Fragen des Lebens stellen wird. Wir deduzieren daraus, was eine phänomenologische Beschreibung, wie wir hoffen, bestätigen würde: Das Wesen einer Person ist von Ursprung an seinen Elementen nach wie dem Gewichte nach vorgegeben, das diese Wertelemente im Gefüge der Person haben. Dieses Gefüge in Schichtung und Gliederung selbst aber entsteht erst in der Geschichte. Die Wertelemente bekommen ihre dem Wesen der Person gemäße Stellung durch Ausgewichtung, Schaffung personaler Zonen und Strukturen. Die Bildung der Person als Kosmos ist einigermaßen analog der Bildung eines großen Weltsystems. Wertatome haben untereinander Kräfte der Anziehung und Abstoßung, Beziehungen der Verträglichkeit und der Unverträglichkeit, der Ergänzungsfähigkeit und -bedürftigkeit oder der Ausschließlichkeit. Diese Atome sondern sich von jenen und schließen sich mit anderen zu molekularen Anlagezentren personalen Werdens zusammen, die in die Mitte des kindlichen Nebelsternes einzudringen suchen und sich gegenseitig ihre solarische oder planetarische Existenz anweisen. Je deutlicher sich in diesen Prozess der Ausgewichtung das Atom eines personalen Wertes, das Molekül eines Wertgefüges als Dominante des Wertwesens erweist, umso mehr werden andere Werteigenschaften mit in ihren Bannkreis gezogen, unverträgliche zu peripherischer Bedeutung herabgewürdigt, Ansätze zu anderen personalen [S. 9]Strukturen vorübergehend unterdrückt oder endgültig zerstört. So kristallisiert sich aus dem Chaos personaler Anlagen, aus vielfältigen Möglichkeiten die endliche Wirklichkeit der geschichtlichen Person.
Wir müssen nun begreifen, dass diese Personalität niemals zu endgültiger Festigkeit geschichtlicher Erscheinung erstarren kann. Dies unabänderliche Schicksal der Geschichtlichkeit gründet allerdings nicht in der Reinheit des Wesens Person, sondern in der Endlichkeit der Person. Vollendung und Vollkommenheit sind keine Kategorien des geschichtlichen Werdens, es gibt in der Geschichte keine abgeschlossene oder gar vollkommene Einheit derart, dass alles Sein und Geschehen sich je aus Vernunftgründen ganz verstehen oder gar ganz rechtfertigen ließe. Vielmehr ist die geschichtliche Entwicklung bemessen durch das Drängen nach dieser Einheit des Sinnes, die Annährung an sie, die Entfernung von ihr; und die Epochen und die führenden Persönlichkeiten treten aus dem geschichtlichen Flusse durch die vereinheitlichende Kraft und die besonders wirksame Ausprägung partikulärer Werttendenzen hervor. Die Einheit der Geschichte bedeutet nicht, wie Hegel‘scher Optimismus meint, die Einheit des Siegeszuges der Vernunft, durch die der geschichtliche Moment zur bloßen Durchgangsstation würde, sondern den permanenten, wenn auch veränderlichen Bezug der historischen Kräfte auf eine Einheit des Sinnes, eine Kontinuität der Entfaltung, die einen immer erneuten Ausgleichversuch von Wertinnenwelt und Wertaußenwelt [S. 10]der Personen darstellt.
[1] Stein, Zum Problem der Einfühlung. Halle 1917.
[2] Vernunft ist hier als die geistige Kraft verstanden, die die Akte einer Person durch Wertgerechtigkeit zu motivieren trachtet.