Die Endlichkeit der geschichtlichen Person betrifft sowohl den Grad ihrer wirklichen wie den ihrer möglichen Entfaltung. Das erste bedeutet, dass in der Person ein Noumenon angelegt ist, das in der Wirklichkeit geschichtlicher Erscheinung immer nur zu endlicher, unvollkommener Darstellung gelangt. Solange eine Person hingegeben an Werte und Wertwirklichkeiten, die ihrem personalen Wertwesen entsprechen, in ein ihr zugängliches Reich der Werte tiefer eindringt, erwachen auch in ihr immer neue personale Werte zu geschichtliche Erscheinung. Darin besteht zum guten Teile das Wachstum des Menschen mit seinen höheren Zwecken, dass bisher unangerufene, darum unentdeckte personale Werte zu oft wundersamer Bewährung kommen; solche neuen Tiefen tun sich aber im Geiste auf, solange er strebt; in jedem Momente also ist die wirkliche geistige Entfaltung der Person unvollendet, endlich gegenüber dem Ideale der vollentfalteten Person. Erst der Quietismus des Geistes entzieht ihn der Geschichtlichkeit.[1]
Aber nicht nur dem Ideale der Person gegenüber, sondern auch dem Ideale der Vernunft gegenüber ist die geschichtliche Person beschränkt, auch ihre Entfaltungsmöglichkeiten sind endlich. Diese Endlichkeit geht zurück 1.) auf die Besonderung der in einer Person angelegten Werte, 2) auf das besondere Gewicht jedes dieser [S. 11]Werte für die Konstitution des personalen Wesens.
Die eigentümliche Wertheit jeder geschichtlichen Person ergibt sich aus der Vereinigung nur gewisser und gerade dieser Werte und Unwerte. In keiner endlichen Person sind sämtliche Werte angelegt. Wohl aber wird eine eigentümliche, aber vielleicht nicht notwendige Totalität für jede Person gewonnen durch Wertanlagen in jeder der die Personalität erfüllenden Wertrichtungen: die Vorhandenheit oder Nichtvorhandenheit und die Stellung der personalen Werte bestimmt dann, wie tief eine Person erfassend und gestaltend in ein Kulturgebiet einzudringen im Stande ist. Indem sie angesichts bestimmter animalischer, seelischer, geistiger Gegebenheiten und Erfordernisse in gemeinsame Erscheinung treten, gewinnen sie eine Bezogenheit aufeinander, die ihren Träger durch Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit zu einem eigenartigen Typus macht. So machen etwa Pietätsgefühl, dankbarer Sinn, Liebesbedürfnis die natürliche Sohnschaft zu einem phänomenalen Wertverhältnis, ihren Träger zum Typus eines guten Sohnes. Zum Typus gehört aber nicht nur die Vereintheit und der Zusammenschluss gewisser Werte, sondern auch die Auszeichnung einer Wertrichtung als Dominante schafft sinngemäß typische Konstellationen der Dienstbarkeit der übrigen Werte. Der vom Erwerbssinn beherrschte wirtschaftliche Mensch macht seinen Erkenntnisdrang der Voraussicht technischer Nutzungen untertan, seine Phantasie hat die betriebsame Erfinderischkeit Balzac‘scher Menschen, sein sozialer Trieb [S. 12]macht ihm die anderen um ihrer Ausbeutbarkeit willen schätzbar usw. Der Wissenschaftler spürt den sozialen Drang vor allem im Hang zur intellektuellen Gemeinschaft mit Vernunftwesen, sein Machtstreben – anhebend in kleinlich persönlichen Eitelkeiten wie dem Prioritätsstreit – gipfelt sich zum platonischen Herrschaftspostulat der Vernunft auf, das Philosophen auf Königsthrone hebt.
Die ganze Mannigfaltigkeit der Einigungen und Eingliederungen in Typen können wir hier nicht auseinanderlegen. Als heuristisches Prinzip dürfte sich wohl, wie ähnlich Spranger in seinem Entwurf über Lebensformen angenommen hat, die Herausdestillierung der Werte, so wie sie in die verschiedenen typischen Kulturgebilde als deren Werdekräfte eingeflossen sind, empfehlen; der Beitrag, den sie zu ihrem Aufbau lieferten, spiegelt die Stellung wieder, die Ihnen in der Struktur der aufbauenden Persönlichkeit vernünftigerweise zukommt.
Es braucht kaum gesagt zu werden, dass im allseitigen Lebensbezug kaum je Typen von so dämonischer, schicksalshafter Einseitigkeit auftauchen, wie hier skizziert. Schon dass wir im Schnittpunkt vieler Lebenskreise stehen, begünstigt unsere Entfaltung als Übergangserscheinungen zwischen Typen, die nicht mit ausschließender Entschiedenheit in uns angelegt sind; es sind dann vielmehr Werte verschiedener Typenbereiche von so ebenbürtiger Konstitutivität für unsere Person, dass sie immer und immer wieder je nach der Gunst der Umstände als Kronprätendenten auftreten können. Andererseits kann [S. 13]die Eigenart von Lebensaufgaben zur Gerechtwerdung eine einseitige Verlegung unseres geschichtlichen Schwerpunktes bedingen, eine Vereinseitigung zuungunsten vielleicht wertvoller Komponenten des personalen Wesens, die bis zur Untreue an ihm führen kann.[2] Das starke Gefühl für die so begründete Unheiligkeit des Handelns wendet Menschen vom Typ des Selbsterlösers dem Nihilismus zu.
Alle Typik ist also nur durch sinnhafte Verschwisterungen und Verfeindungen, ausgehend von einem bestimmten Punkt innerhalb des Reiches personaler Werte bestimmt, die sich in ihr rein, ohne Trübung wie ohne gesteigerte Besonderheit, darstellen. Der Typus ist als eine Struktur nur rationaler Sinnbestimmtheit von einer gewissen Dürftigkeit und von dem Reichtum der Individualität unterschieden, der sich in dieser vernunftmäßigen Wertkonstellation nicht erschöpft, sondern sein Wesen in einer besonderen, übervernünftigen, oft einzigartigen Bindung der personalen Werte dokumentiert. Individualität ist also hier nur im Sinne eidetischer Singularität, einzigartiger Abschattungen verstanden, nicht in dem ontischer Singularität, die dem Naturding ebenso wie der geschichtlichen Person schon durch das Wesen der Raum-Zeitlichkeit unbedingt gewährleistet ist. Es ist jene letztliche Bestimmtheit gemeint, die etwa in Spinoza nicht nur überhaupt Phantasie oder religiöses Gefühl hinter dem Erkenntnisdrang [S. 14]zurücktreten lässt – wenn wir Spinoza als typisch theoretischen Geist fassen dürfen –, sondern es in ganz besonderer Weise tut, die mir selbst wieder zu erlebten Gegebenheit durch ihren Ausdruck z.B. in seiner Systematisierungskunst oder etwa in seiner Fassung des Begriffes amor dei kommen kann. Die Möglichkeit dazu liegt – wie gesagt – darin, dass durch die charakteristische, nicht durch bloße Vernunft bestimmte Gewichtigkeit gewisser Werte für eine Person, ihre mehr oder minder konstitutive Bedeutung, die Möglichkeit für spezifische Über- und Unterordnungsverhältnisse geschaffen ist. Gewinnt diese Durchgestaltung der Wertperson einen beispielhaften Charakter der Geschlossenheit, so wird die Individualität zum Idealbild, das also nicht durch den Besitz gewisser Merkmale bestimmt ist, sondern nur als unvergleichlicher Aufbau aus und nach gewissen Werten dasteht.
Die Endlichkeit einer Person bedeutet also für ihre wirkliche Entfaltung das notwendige Zurückbleiben hinter ihrem idealen Wesen, für ihre möglichen Entfaltung 1.) die Eingegrenztheit in personale Werttypik aufgrund des Sinnzusammenhanges der gerade in ihr angelegten Werte und 2.) die Individualisierung aufgrund der aufbauenden Bedeutung ganz bestimmter Werte für ihr Wesen. Und es stellt diese Typik und Individualität der endlichen Person eine Einschränkung gegenüber der unendlichen Personalität dar, die wir Gott[3] nennen, wie immer es um deren [S. 15]Existenz bestellt sei. In Gott wären alle Werte zu sinnvoller Ausgewichtung gebracht: Er wäre über-typisch, weil keine Vereinigung besonderer Werte ihn charakterisiert, über-individuell, weil die Subordination der Werte in ihm eine reine Widerspiegelung der Rangordnung der Werte darstellt. Aus Gottes übersieghafter Ruhe, seiner vollen Entfaltetheit flössen Werke und Wirken rein und hemmungslos in eine ewige Dauer der Vollendung, nicht in jene Zeit der Geschichte, die durch Entfernung von, durch Annäherung zum Zentrum des Geistes gemessen wird. Die Geschichte ist die Geschichte endlicher Personen. Und umgekehrt: endliche Personen bedürfen zu ihrer Darstellung das Medium und die Materie der Geschichte; darin enthüllen sie im Sichentfalten ihre Werte, die sie sinnvoll zu typischen Strukturen einen, letztlich dem Wesenssinne ihrer Individualität unterwerfen. Erst in diesem letzten Stadium wächst dem Geist volle Geschichtlichkeit, d.h. Kraft der Bildung der Einheit einer Geschichte zu, wenn er zu der Individualität gelangt ist, dass seine Bemühungen die Zeiten [S. 16]und Momente, die sie erfüllen, selbst individuell und unverwechselbar gestaltet haben. Ein Punkt der Zeit wird zum Moment der Geschichte dadurch, dass in ihm die Wandlungen des Geistes eine Phase durchlaufen, die ihm nie gewesene, nie wiederkehrende Erfüllung gibt. Die Einheit der Geschichte schließt ewige Wiederkehr aus.[4]
Ist die geistige Einheit einer Person auch stets eine in der Geschichte werdende, nie wie die der Natur, auch der psychischen Natur, eine seiend gegebene, so soll doch nicht geleugnet werden, dass es ein Stadium der geistigen Entwicklung gibt, das Stadium der Reife, in dem der Mensch als geistige Person zu sich selbst gekommen, geworden scheint, was er – im transzendentalen Sinne – ist, wo sich sein personales Wesen durch vollständige Apparenz seiner Werte und deren Bedeutsamkeit für dies Wesen offenbart. Ja, dieses Stadium ist nicht einmal in dem Sinne ein Punkt des Werdens, dass es wie die Höhepunkte des animalischen und psychischen Lebens als Grenzscheide zwischen Auf- und Abstieg fungiert. Stelle ich in begrifflicher Isolierung das Leben der Person rein auf den Geist[5]; so ist prinzipiell eine unendliche Höhenwanderung möglich. Dass in Gesamtpersonen die Staat, Nation, Kirche usw. das geistige Wesen die natürlichen Fundamente mit viel abgelösterer Selbstständigkeit überbaut, ist der Hauptgrund des Glaubens an ihre „Unsterblichkeit“ und (gegenüber dem Stückwerk des Einzellebens) an die Erfüllbarkeit [S. 17]nationaler oder kirchlicher Missionen.
[1] Auf Seite 17 ff. <= hier S. ??> wird gezeigt, in welcher Einschränkung diese Behauptung verstanden werden muss.
[2] Die Verkennung ihm abseitiger Werte, fremder Lebensaufgaben, fremdpersonalen Wesens gehört ja zur anerkannten Typik des Schaffenden.
[3] Wir sprechen nur von dem unendlichen Wertwesen. Denn Gott und nicht der Teufel (beide bloß als phänomenale Gegebenheiten erfasst) überbaut die Endlichkeit des menschlichen Wesens mit unendlicher Wertvernunft, weil trotz der möglichen Gegebenheit von Unwerten in ihm in den Prinzipien seiner Lebenshaltung das Wesen der Vernunft, nicht der Widervernunft zum Durchbruch kommt: Das Gefühl eines Wertes motiviert für den Menschen vernünftig Achtung und Ehrfurcht, nicht widervernünftig Hohn und Spott, fordert Hingabe und eventuell Realisierung, nicht Auflehnung und eventuell Zerstörung, kennzeichnet Hingabe an Werte als Treue, Hingabe an Unwerte als Verstockung. Das Gefühl des Höherwertes bedingt ihm dessen Vorzug, das des Niederwertes dessen Nachsetzung und umgekehrt. Wie unvollkommen er immer diesen Vernunftzusammenhängen gerecht wird, nur als Vernunftwesen kann er doch den Teufel als Feind und Verführer, die Sünde als Abweichung von der menschlichen Bestimmung spüren. Wie das Böse dennoch in die Welt kommt, darüber kann an dieser Stelle nicht gehandelt werden, es ist unerheblich gegenüber der absoluten Evidenz der Fassung des Menschen als Vernunft-, d.h. positiven Wertwesens.
[4] Selbst bei der apriori denkbaren Voraussetzung, dass die Fülle möglicher Individualitäten in der geschichtlichen Wirklichkeit zum immer wiederholten Auftreten derselben eidetischen Singularität zusammenschrumpfte, würden doch jeder Person an jedem Punkte und in jedem Momente der geschichtlichen Welt Aufgaben zufallen, die der Person eine besondere, so nicht wiederkehrende Entfaltung, der Welt eine besondere noch nicht geleistete Bearbeitung sicherten. Würden aber die gleichen Momente geschichtlicher Weltbearbeitung als Resultate des Auftretens verschiedener Individualitäten fungieren, so würden doch irgendwelche Punkte ihres Vor und Nach sich unterscheiden. Damit wären zugleich die Momente selbst als geschichtlich gewordene nicht nur ontisch andere, sondern inhaltlich verschiedene. Dies wäre nur dann nicht der Fall, wenn derselbe geschichtliche Moment das Auftreten derselben geschichtlichen Person bedingte und aus der Konstellation die Wirklichkeit des nächsten Momentes mit eindeutiger Notwendigkeit flösse usf. Diese Voraussetzung würde aber ein fremdes mechanisches Erklärungsprinzip in die Geschichte tragen, das in deren Wesen gar keinen Anhalt des Verständnisses findet: Ich kann begreifen, dass ein geschichtlicher Moment das Auftreten geschichtlicher Personen bestimmt, d.h. besondert, indem er aus ihnen herausgelockt, was ihm gemäß ist; welche verständliche Kraft aber soll ihn befähigen, dieses Auftreten durch Verlockung des Geistes in die Wirklichkeit erzeugend zu bestimmen?
[5] Dies bestimmt bei den Stoikern als praktische Forderung ihre eigentümlichen apologetischen Erörterungen des Alters.