
Santonin ist „ein von Naphtalin abgeleitetes polycyclisches Lakton, das bereits in der antiken Medizin zur Behandlung von Wurminfektionen des Darms verwendet wurde. Bei Aufnahme ruft es Symptome von seiten des Zentralnervensystems hervor: In niedrigen Dosen ist vor allem der Sehsinn (Farbsehen; Xanthopsie = Gegenstände erscheinen gelb) betroffen. Bei höheren Dosen werden auch epileptiforme Krämpfe und Nierenschäden beobachtet.“ (Auszug aus einem pharmakologischen Lexikon)
Husserl über die Wirkung von Santonin und von farbigen Brillen
“Wenn ich Santonin esse, so wandelt sich ‘scheinbar’ die ganze Welt, sie ‘verändert’ ihre Farbe.” (Hua IV, S. 62)”
“Dass Einwirkungen auf den Leib auch durch Essen statthaben, und zwar von einer Art, die auf die sinnliche Empfindlichkeit und Wahrnehmungsfunktion der Leibesteile einen Einfluss hat, ist eine Sache der Erfahrung, auch schon für das solipsistische Subjekt. Santonin wirkt wie eine gelbe Brille, andere Einwirkungen rufen Lähmungen hervor, machen den Leib partiell oder ganz anaesthetisch etc.” (Hua IV, S. 73)
“Eine so genannte Erkrankung meiner Augen verwandelt die ganze visuelle Welt, alles sieht anders aus; esse ich Santonin, so wirkt das ebenfalls so, die ganze Welt erscheint wie durch ein gelbes Glas gesehen. Usw.” (HuaMat IV, S. 184)
“Das Ding sieht zwar anders aus, je nachdem ich das Auge drücke (Doppelbilder) oder nicht, je nachdem ich Santonin esse oder nicht etc. Aber es ist bewusstseinsmäßig dasselbe und der Wechsel der Färbung gilt nicht als Wechsel oder vielmehr Veränderung der Eigenschaft, die die Farbe anzeigt, die in ihr gegeben ist. Und so überall.” (Hua IV, S. 75 f.)
“Ein Normalsystem muss sich also ursprünglich konstituieren. Die Frage ist nur, ob es notwendig ist, dass ein solches System immer als Bezugssystem verbleiben muss. [. . . ] Ich kann nun aber auch auf meinen Leib in anderer Weise Macht üben, so wie ich durch ihn auch Macht übe über andere Dinge; in der Weise, dass ich mich verletze, mir einen Schlag ins Auge versetze, der Sehstörungen herbeiführt etc. Warum gehören solche Einwirkungen nicht zum erweiterten System von Wahrnehmungsfunktionen? [. . . ] Es muss beschrieben werden, was da fehlt und warum alles solche Tun bis hinauf zum Santonin nichts konstitutiv Wesentliches ergibt, es sei denn eben das ‘Anomale’.” (Hua XIV, S. 132 Anm. 2)
“Blaue, gelbe und sonstige farbige Gläser haben die Eigenschaft, dass, wenn ich durch sie die Dinge sehe, sie erscheinen, als ob ihre Farbe so und so geändert wäre. Meine Weltauffassung ändert sich nicht, es sei denn in der Hinsicht, dass ich in ihr die Erfahrung von durchsichtigen Dingen mache; eine Eigenheit von Dingen kennenlerne, hinsichtlich ihrer Wirksamkeit auf das Funktionieren des Leibes bei der Wahrnehmung. Wie aber, wenn das Sinnesorgan selbst anomal fungiert, wenn es pathologisch verändert ist etc.? Eine ungewöhnliche Leibesänderung, Änderung des Sinnesorgans (wie durch Santonin-Essen) kann äußerlich unmerklich sein und andererseits genau so wirken wie eine Brille. Aber es wäre verkehrt, das Organ selbst für so etwas wie eine Brille anzusehen, durch das das geistige Subjekt die Dinge selbst sieht.” (Ms. D 13 I/187a,b)
“Es wäre auch denkbar, dass pathologisch alle Sinne zugleich ihre ‘blauen Brillen’ erhielten, dann stünde für uns das Ding schlechthin als geändert da.” (Ms. D 13 I/174b)
“Aber gibt es nicht auch intellektuelle, wie sonstige, Verrücktheit, darunter eine Wahrnehmungsverrücktheit, d.h., das betreffende Subjekt kann in seinen Wahrnehmungen eine einheitliche Welt überhaupt nicht mehr durchhalten? Welche Möglichkeiten bestehen hier? Ist es möglich, dass ich solipsistisch mich, normal werdend, meiner Wahrnehmungsverrücktheit erinnere? Ist eine Selbsterhaltung möglich bei einer so gearteten Verrücktheit? Etwa durch Fürsorge Anderer? Dabei ist vorausgesetzt, dass doch eine Welt besteht. Wieviel Verrücktheit ist verträglich mit der Existenz der Welt? [. . . ] Steht dem Menschen ein Verrückter gegenüber, so kann sich selbst diese Anomalität (die der Möglichkeit nach von vornherein auffassbar ist als leibliche Anomalität, als parallele nach Analogie sonstiger Erkrankung) dem normalen Erfahrungssystem des Menschen einordnen. Aber es fragt sich, was die Möglichkeit, überhaupt noch eine Einfühlung zu vollziehen, voraussetzt als ein Minimum.” (Hua XIV, S. 123 f.)